Montag, 16. Mai 2011

Der Zeitpfeil (2)

Im letzten Blogbeitrag bin ich auf das Problem eingegangen, dass man den physikalischen Gesetzen keine bevorzugte Zeitrichtung entnehmen kann. Daraus folgt (auch makroskopisch), dass der aktuelle Zustand sowohl das Ergebnis der Vergangenheit als auch der Zukunft sein kann.

Zunächst will ich noch mal näher erklären, wie man sich ein Universum, das sich rückwärts in der Zeit entwickelt, vorzustellen hat. Dazu kann man sich einfach die letzten Stunden als Videofilm denken, den man rückwärts abspielt. Mikroskopisch wird dabei nichts ungewöhnlich sein. Makroskopisch jedoch schon. So würde eine Tasse, die in der Zeit zu Boden gefallen ist und dabei zerbrach sich wieder zusammensetzen.

Das veranlasst zunächst sofort zur Aussage, dass dies ja extrem unwahrscheinlich ist, weil die Splitter genau getimet am richtigen Ort sich wieder zusammenfinden müssen. Nur eine kleine Veränderung und die Tasse könnte beim rückwärts abgespielten Video unmöglich wieder ganz werden. Alles musste genau stimmen, damit das passiert.

Aber nun analysieren wir mal, wie empfindlich der Ist-Zustand von vergangenen Ereignissen abhängt.
Am Beginn des Universums waren sämtliche Teilchen dicht gepackt zusammen. Wenn hier kleinste Dinge anders positioniert gewesen wären, dann hätte das durchaus dazu führen können, dass die Milchstraße samt Erde nicht entstanden wäre. Wenn das zu abstrakt ist: Nehmen wir mal an, Dein Vater und Deine Mutter hätte sich nicht kennen gelernt. Dann würdest Du nicht existieren. Vermutlich würdest Du nicht mal dann existieren, wenn die beiden auch nur ein paar Sekunden später ein Kind gezeugt hätten.

Wenn man sich jedes Teilchen der Welt genau ansieht, dann ist der Ist-Zustand genauso kritisch von der Vergangenheit abhängig wie er von der Zukunft abhängig wäre, wenn die Zeit rückwärts liefe.

Auf mikroskopischer Beschreibungsebene bleibt jede Zeitrichtung gleich wahrscheinlich, auch wenn ich alle Teilchen des Universums berücksichtige.

Wenn ich jedoch das Universum makroskopisch beschreibe, dann fällt eine Unsymmetrie auf.
Denken wir uns einfach mal einen Videofilm, der Menschen zeigt, die an einem Straßenrand stehen und dann bei  die Straße überqueren, wenn diese frei von Fahrzeugen ist.

Rückwärts abgespielt, gehen die Menschen rückwärts auf die freie Straße zu, überqueren diese, bleiben dann stehen und beobachten rückwärts fahrende Autos.

Nun stellen wir uns eine leichte Änderung der Anfangsbedingung vor. Wir lassen das letzte Auto ein paar Sekunden später ankommen. Wenn der Vorgang vorwärts abläuft, werden die Leute natürlich die Situation wahrnehmen und erst dann  über die Strasse gehen, wenn das letzte Auto vorbeigefahren ist.

Im rückwärts abgespielten Fall würden die Leute aber gar nicht auf die Strasse sehen, bevor sie sie überqueren. Sie würden nicht reagieren können. Ihre einzige Chance zu überleben bestünde darin, dass sie von Anfang an mit dem letzten Auto synchronisiert sind.
Der makroskopische Zustand um den es hier geht ist das Überleben der Passanten.  Wenn alles vorwärts läuft, würden leichte Änderungen keine Gefahr darstellen. Läuft alles rückwärts, wäre nur dann keine Gefahr, wenn die Historie in dem Ausgangszustand in der Zukunft eincodiert ist.

Man kann natürlich nicht ausschließen, dass das Universum mit einem äußerst freundlichen Anfangszustand in der Zukunft für solche makroskopischen Phänomene ausgestattet war.
Jedoch ist eben bei vorwärts gerichteter Zeit makroskopisch vieles sehr robuster gegen Änderungen des Anfangszustandes in der Vergangenheit.

Wenn ich mich nun frage, wie das alles so gekommen ist, wie es gerade jetzt ist, dann muss ich einer vorwärts gerichteten Zeit vom Urknall ausgehend den Vorzug geben.
Ich kann jedoch eine rückwärts gerichtete Entwicklung des Universums nicht völlig ausschließen.

Fazit: Die makroskopischen Phänomene dieses Universums hängen entscheidend von Anfangszustand und Zeitrichtung ab. Aus diesem Grund kann man mit Kenntnis der makroskopischen Phänomene auf die wahrscheinlichere Zeitrichtung schließen. In diesem Fall scheint unsere Intuition recht zu haben.

Zum Schluss möchte ich noch auf ein weiteres spannendes Thema eingehen, das sich aus der Unterscheidung makroskopischer Phänomene und mikroskopischer Phänomene ergibt.
Das Universum strebt eine immer höhere Entropie an. Das bedeutet, dass jegliche Energiegefälle sich ausgleichen. Es ist wie eine aufgezogene Uhr, die abläuft und dabei die Spannkraft der alles antreibenden Feder verliert. Wenn es keine Energiegradienten mehr im Universum gibt, kann kein geordneter Prozess mehr ablaufen. Makroskopisch steht dann die Zeit still, während sie mikroskopisch noch vorhanden ist.

Das bedeutet, dass für die Zeit, die für uns makroskopische Wesen vergeht, die Ausgleichsgeschwindigkeiten der Energiegradienten in unserem Körper verantwortlich sind. Ein Körper, der bis zum absoluten Nullpunkt runtergekühlt ist, baut keine Energiegradienten mehr ab und daher vergeht für diesem Körper auch keine Zeit mehr.
Der Körper erhält sich seine Energiegradienten dadurch, dass er neue Energie durch Nahrung zuführt. Je mehr Energie zugeführt wird, umso größer können die inneren Energiegradienten sein. Vergleichbar damit, dass mehr Wasser in einem Fluss eine Mühle auch schneller antreiben kann. Oder auch mehr oder schnellere Luft, die auf ein Windrad strömt, dieses auch schneller antreibt.
Daraus kann mehr Leistung entstehen. Es bedeutet aber auch, dass die Prozesse pro Zeit intensiver oder zahlreicher werden. Das ist vergleichbar mit schnellerer Zeit.  Ein Windrad, das sich schneller dreht, kann mit einem Windrad verglichen werden, das sich langsam dreht, bei dem aber Zeitraffer angewendet wird.

Richard Feynmans Vortrag über Vergangenheit und Zukunft ist ein Klassiker zu diesem Thema.